Die Insel der Liebe
Wo bin ich geboren?“ fragte die junge Liebe.
„In den Schaumkronen des Meeres, so wie es die Griechen von der Liebesgöttin Aphrodite berichten,“ antwortete die alte erfahrene Liebe. „Der Wind des Meeres hat dir einen seiner vielen Flügel gegeben, damit du dich damit hochschrauben und gleiten kannst.“
„Und wohin wird mich der Meereswind treiben, wenn ich in den Lüften bin,“ frage die junge Liebe.
„Er wird dich zur Liebesinsel treiben,“ antwortete die alte Liebe. „Das ist dein Ziel, dort wirst du bleiben und glücklich sein.“
„Und, ist es weit bis dahin?“ fragte die junge Liebe.
„Ja, es ist sehr weit und anstrengend. Manchmal wird ein Orkan dich zausen und an deinen Federn rupfen. Vielleicht musst du auf den Wogen eine Zeit lang in Richtung Insel schwimmen, bis dir neue Flügelfedern gewachsen sind. Aber du wirst auf jeden Fall dort ankommen,“ tröstete die alte Liebe.
„Das ist aber sehr einsam, wenn es so lange dauert bis zur Liebesinsel,“ sagte die junge Liebe traurig.
„Du wirst vielleicht eine andere Liebe unterwegs treffen, die ein Stück mit dir fliegen will, vielleicht auch länger. Ihr werdet sehen,“ war die Antwort der alten Liebe.
„Woran kann ich erkennen, dass die andere Liebe mit mir fliegen will,“ wollte die junge Liebe wissen.
„Sie wird es dir sagen. Du wirst es fühlen. Zusammen werdet ihr mit zwei Flügeln besser vorankommen,“ antwortete die alte Liebe.
„Meinst du, dass wir zusammen fliegen können, dass es einen guten Flügelschlag zusammengibt?“ fragte die junge Liebe.
„Ihr müsst es ausprobieren. Sonst findest du sicher eine andere Liebe,“ machte die alte Liebe Mut.
„Dann will ich jetzt losfliegen,“ sagte die junge Liebe und schraubte sich hoch.
Die alte Liebe schaute sehnsüchtig der jungen Liebe nach, wie sie sich schnell in den Wind erhob.
Sie wusste, dass es ein langer beschwerlicher Flug war bis zur Liebesinsel, auch sie war auf dem Weg dorthin.
Tage und Wochen, ja Jahre vergingen. Oft wurde die alte Liebe von jüngeren Lieben überholt, die allein oder zu zweien aneinander gekoppelt mit zwei Schwingen flogen. Die alte Liebe schien ganz gut voranzukommen. Sie sah auch trudelnde Zweier und unter sich auf dem Meere zerzauste Singles und Zweier. Opfer des Orkans. Sie hatte immer Glück gehabt und konnte dem Orkan ausweichen. Da sah sie die junge Liebe unten auf dem Meer, sie hatte kaum noch Schwungfedern. Die alte Liebe ließ sich nach unten fallen und setze sich neben die junge Liebe.
„Was ist geschehen,“ fragte die alte Liebe.
„Ich kam in einen Orkan, der riss an mir und ich verlor an Federn und Kraft. Dann traf ich eine andere junge Liebe. Wir flogen prächtig zusammen. Doch nach einiger Zeit wurde ich müde und wir wurden langsamer. Die andere Liebe stöhnte, weil sie sich mehr anstrengen musste, um das Tempo zu halten. Wir wurden langsamer. Es überholten uns immer mehr Lieben, allein und zu zweit. Da ließ die andere einfach los und flog mit einer anderen kräftigen jungen Liebe davon,“ erzählte die junge Liebe und schaute sehnsüchtig und traurig in die Richtung der Insel der Liebe.
Die alte Liebe wusste nicht, war es nun Sehnsucht zur anderen verlorenen Liebe oder Sehnsucht nach der Liebesinsel. „Was ist dann mit dir passiert?“ wollte die alte Liebe wissen.
„Ich trudelte nach unten und fiel ins Meer. Ich war sehr kraftlos, konnte Tage nicht weiter, nur auf der Stelle schwimmen." Und sie sackte traurig ineinander. Von der Glut einer jungen Liebe war kaum noch was zu spüren.
„Ich schwimme mit dir. Ich ziehe dich!“ entschloss sich die alte Liebe. "Ich zeige dir, wie man neue Kraft gewinnt. Wie man sich die lange Zeit der Reise vertreibt, wie man sich gegenseitig ermutigt." Und schon - sie voraus – schwamm sie los. Sie putzten sich gegenseitig. Die alte Liebe wärmte und schützte die junge Liebe in der Nacht . Sie kamen gut voran, und die Federn der jungen Liebe wuchsen jeden Tag.
Die alte Liebe merkte nach einigen Wochen, in denen sie zusammen geschwommen waren, dass die junge Liebe neuen Lebensmut bekam.
„Ich will wieder fliegen,“ rief sie eines Tages. Und die junge Liebe flog, zuerst im Windschutz der alten Liebe. Oft flogen sie aneinander gekoppelt, um Kraft zu sparen. Die junge Liebe wurde immer schneller. Die alte Liebe kam außer Atem.
„Flieg alleine weiter,“ riet die alte Liebe.
„Nein,“ sagte die junge Liebe, „ ich werde dich nicht in Stich lassen.“ Doch die anderen jungen Lieben zu zweit und allein waren schneller, und so fragte die junge Liebe eines Tages: „Bist du böse, wenn ich schon mal vorfliege? Ich habe solch eine Sehnsucht nach der Insel der Liebe.“
Die alte Liebe lächelte: „Ich würde gern mit dir weiterfliegen, zu zweit ist es bequemer und schöner, man kann sich unterhalten und Mut machen, man kann sich gegenseitig die Liebe erklären und nahe sein. Aber flieg nur, ich komme nach.“ Und gab ihr einen kleinen Schub, dass sie auch wegflog. „Bis dann, tschüss!“ rief die junge Liebe. Die alte Liebe sah der schnell davon eilenden jungen Liebe nach, ein paar Tränen rollten aus ihren Augen, aber sie hatte ein Stückchen Glück genossen und wünschte der jungen Liebe alles Liebe und Gute.
Wochen flog die alte Liebe weiter und sehnte sich nach der Liebesinsel und dachte oft an ihre junge Liebe, die schon voraus geflogen war, da sie es nicht abwarten konnte. Ob sie schon die Insel erreicht hatte? Keiner wusste ja, wo und wieweit entfernt diese Insel lag. Denn, wer einmal die Liebesinsel erreicht hatte, bleibt immer dort. Oft wurde sie überholt und manches Mal überholte sie andere Lieben, die zu zweit oder allein und müde geworden waren und sich zur Insel quälten, und viele sah sie unter sich auf den Wogen des Meeres, allein oder zu zweit, die sich ausruhten, manche zerfleddert und traurig.
Als sie sich so umschaute, bemerkte sie eine Liebe von unten aufsteigen, direkt auf sie zu. Da war wohl jemand, der sie auserkoren hatte, mit ihr zusammen zufliegen. Viele alte Lieben hatten es schon versucht, aber sie hatte lieber allein weiter fliegen wollen, sie dachte immer wieder an die junge Liebe, die ihre Begleiterin so lange Zeit gewesen war. Die Erinnerung ließ sie nicht los. Die Liebe, die aufgestiegen war, flog nun neben ihr her, sie war jung, schön und glühte sehr hell.
„Wie geht es Dir,“ fragte die Liebe die alte Liebe. „Erkennst du mich nicht?“
Die alte Liebe leuchtete auf. Es war die junge Liebe! „Du?“ rief sie und zugleich zuckten die Liebes-Glut in ihr unruhig und sie taumelte. Sie sackte tiefer und tiefer, kraftlos. Ihr letzter Gedanke war: „So werde ich die Insel der Liebe nie erreichen!“ und ihr Bewusstsein schwand. Sie fand sich wieder auf dem Meer. Aber sie war nicht allein. Die junge Liebe erklärte ihr: „Ich habe hier auf dich gewartet. Das letzte Stück bis zur Insel der Liebe ist wohl besonders schwer. Ich habe nämlich gesehen, dass hier, anders als vorher, nicht die Gleichstarken miteinander fliegen, sondern die starken die schwachen Lieben ziehen. So wie Du es mit mir schon vor vielen Wochen gemacht hast.“
„Da bist du auf die Idee gekommen, auf mich zu warten,“ ergänzte die alte Liebe, „aber mit mir wirst du es nicht leicht haben!“
„Doch ,“ antwortete die junge Liebe, „wenn man jemanden zieht, ist man viel stärker, als wenn man zu zweit schlecht fliegt!“
Es war nicht einfach für die junge Liebe, die alte Liebe zu ziehen. Aber die alte Liebe erholte sich nach und nach, bald flogen sie zu zweit nebeneinander, wenn auch ein wenig schief, weil die junge Liebe einen kräftigeren Flügelschlag hatte. Sie wussten, der Weg zur Insel der Liebe war weit. Sie mussten vielleicht noch Jahre fliegen. Aber eines Tages würden sie ankommen.